Leben im Technotop - Technosophie

Meister Frodos Lehrjahre

Tugendhaftes Leben und entmythologisierte Welt im
Herrn der Ringe

Bereits in Platons Politeia II taucht er auf: Der »Eine Ring« ermöglicht in der Parabel des Glaukon dem Hirten Gyges, als Unsichtbarer die Königin zu verführen und den König zu morden, "wie ein Gott unter den Menschen". Wenn man nun mit so großer Macht ausgestattet ist, dass man ungestraft nach Belieben handeln könnte, stellt sich die Frage der richtigen Lebensführung in zugespitzter Weise. Soll man trotz seiner Übermacht moralisch bleiben? Wie reagieren unterschiedliche Charaktere auf diese Möglichkeit? Wie verhält man sich angesichts eines (scheinbar) übermächtigen Bösen? Was ist überhaupt die Natur dieses Bösen? Wie lebt man richtig? All diese Fragen der Ethik und der Lebenskunst verhandelt John Ronald Reuel Tolkien im Gründungswerk der Fantasy-Literatur, das nicht wenigen als bedeutendstes literarisches Werk des 20. Jahrhunderts gilt. Und wie er das tut, was er damit zeigen will und was man daraus lernen kann, das soll hier näher beleuchtet werden.

1. Die Reise der Ringgemeinschaft


Es mag sich lohnen, das Tolkiens Werk auch einmal als Bildungsroman mit seinem dreiphasigen Aufbau wie Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zu lesen.

Die unbekümmerten Jugendjahre Frodo Beutlins werden durch die Beschreibung des Auenlandes und seiner harmlosen, spießigen und ausschließlich mit sich selbst beschäftigten Bewohner, der »kleinen Leute« also, auch Halblinge genannt, anschaulich ausgeführt. Niemand sonst in der restlichen Welt außer Gandalf interessiert sich für diese nur allzumenschlichen Hobbits.

Die moralische Reifung des Titelhelden Frodo Beutlin erfolgt im Laufe seiner beiden Wanderjahre, während der er mit immer größeren Herausforderungen konfrontiert wird, an denen er wächst. So führt Tolkien mit dem Wachstum von Frodos Persönlichkeit dem mehr oder weniger desorientierten Menschen der Moderne ein erstrebenswertes Lebensethos vor. Dies macht den Herrn der Ringe zu einem recht klassischen Bildungsroman, der an einem Lebensideal ausgerichtet ist und von den typischen Brechungen eines Entwicklungsromans des 20. Jahrhunderts überwiegend verschont bleibt. Die Wanderung führt die Hauptfigur immer weiter weg vom weltabgeschiedenen zu Hause im Auenland über zahlreiche Stationen von historischer Bedeutung, bis er am Ende, gezeichnet vom Bösen des Ringes, Mittelerde - die bekannte Welt - verlässt.

Nur am eigentlich glücklichen Ende weicht Tolkien vom Muster der geläuterten Altersweisheit, die mit Anerkennung und gelungener Einordnung in die Welt einhergeht, geringfügig, gewissermaßen in windschiefer Brechung ab. Denn die Einordnung wird durch die seelischen Spuren, die der Ring hinterlassen hat, zur Ausordnung aus dem Weltgetriebe im nun folgenden vierten Zeitalter. Es hat sich etwas verändert, die Helden haben zwar ihren Platz in der Geschichte, müssen aber die Gegenwart des neuen Zeitalters verlassen. Schon in der Struktur zeigt sich so der vom Verlustempfinden geprägte Grundton der tolkienschen Erzählung.


2. Das tugendhafte Leben


Es ist vielleicht nicht ganz überraschend, dass Der Herr der Ringe vor allem ein moralisches Buch ist, ist es doch als Roman eine Geschichte von handelnden Figuren in äußerst schwierigen Situationen unter einer großen weltpolitischen Herausforderung. Tolkien selbst schreibt im Vorwort seines Romans, dass er keine Allegorie der Gegenwart (also des zweiten Weltkrieges) verfasst habe, die eine seiner Meinung nach sehr oberflächliche Gleichsetzung des bösen Herrschers Sauron und seinen Dienern mit Hitler und seinen Nazischergen bedeuten würde. Gleichwohl baue er aber auf die "vielfältige Anwendbarkeit auf das Denken und die Erfahrung der Leser". Demnach liefert der Roman durchaus gewollt Anschauungsmaterial für tugendhaftes Handeln und zeigt die Auswirkungen von Verantwortlichkeit, Leichtsinn und Boshaftigkeit auf andere Menschen und das eigene Lebensglück. Daher kann man auch sehr schlüssig eine individualethische Interpretation dieses Romans vornehmen.

Bei Tolkien haben wir ein wunderbares Lehrstück einer Tugendethik aristotelischer Prägung. In der Tugendethik ist die Entwicklung eines guten Charakters Voraussetzung für den richtigen Gebrauch der praktischen Vernunft. Und zu letzterem gehört die Verfolgung der richtigen, sprich der guten Ziele, sowie die Wahl einer gemäßigten, nicht zu Extremen neigenden Handlungsweise. Viele Aspekte dieses tugendhaften Handelns lassen sich bei den guten Charakteren des Romans nachweisen, insbesondere auch bei den Hobbits. Die große Treue Sams zu Frodo ist hier ein deutliches Beispiel. Der Vorbildcharakter dieser Beziehung macht nebenbei bemerkt auch klar, weshalb der getreue Sam Gamdschie seinen »Master« Frodo Beutlin in der Übersetzung allenfalls respektvoll mit »Herr«, nicht aber, wie in der Neuübersetzung, als »Chef« ansprechen kann. Ist doch in den Sprachgebrauch die Erfahrung eingeflossen, dass man gemäß des »Dilbert-Prinzips« nur wegen erwiesener Unfähigkeit zum Chef befördert wird, nicht aber, weil man lernfähig und tugendhaft ist, wie Frodo. So hat vielleicht ein falsches Wort mit dazu beigetragen, dass die Altübersetzung des Herrn der Ringe wieder neu aufgelegt werden musste.

Die Macht des Einen Ringes nun ist ein Prüfstein für den Charakter derjenigen, die in seine Nähe kommen. Das Kriterium der charakterlichen Bewertung sind die durch den Ring hervorgerufenen Ziele und Handlungsweisen. Dabei wirkt der Ring als Verstärker der Schwächen und Laster, die in den Charakteren angelegt sind, und kann daher den guten, ausgeglichenen Charakteren am wenigsten anhaben. So wird der Hobbit Sméagol - der spätere Gollum - sehr schnell zum Mörder, um sich den Ring als Geburtstagsgeschenk von seinem Freund Déagol, der den Ring eigentlich im Wasser entdeckt, anzueignen. Bilbo macht vom Ring eher spielerischen Gebrauch und kann ihn sogar als Erster, wenn auch nach beständigem Zögern, dafür nach jahrzehntelanger Einwirkzeit, freiwillig abgeben. Der zupackende, tapfere, aber auch stolze und leicht missgünstige Boromir hingegen erkennt erst spät, dass ein mächtiges Werkzeug ihn soweit moralisch korrumpieren kann, dass er zum Mord bereit ist. Mit dem Probierstein des Ringes der Macht zeigt Tolkien pointiert, vor welche moralischen Herausforderungen jeder Mensch gestellt sein kann - und wie unterschiedliche Charaktere damit umgehen. Dies für sich selbst zu imaginieren, macht vielleicht auch den großen Reiz dieses Ringes für den Leser aus.

Ein Utilitarismus, der den Nutzen des Ringeinsatzes bewerten wollte, wie dies der irregeleitete Boromir ja macht, als er den Ring zum Nutzen des Menschenreiches gegen Sauron einsetzen will, passt offenbar nicht zum Bauprinzip der Tolkienschen Mittelerde. Nach Aeon Skoble wäre einzig für die Elbin Galadriel der Utilitarismus die geeignete Moraltheorie, weil sie nämlich über prophetische Gaben verfügt und damit auch die Folgen aller ihrer Handlungen kennen und objektiv bewerten könnte. Da wir nun in der realen Welt über keine Sehergaben verfügen, hält Skoble sehr mutig den Utilitarismus als nützliche Morallehre bereits für widerlegt. In diesem netten Gedankenspiel überschätzt Skoble dann doch die Möglichkeiten der Prophetie. Auch in der Fantasy-Literatur werden einzelne Ereignisse eher ungenau und selten exakt terminiert gewahrsagt. Das ist nicht nur aus erzählerischen Gründen so erforderlich, sondern der für eine derartige »Nutzenprophetie« vorausgesetzte mechanische Determinismus passt auch gar nicht zum Weltbild der Fantasy, da sie ontologisch wohl kaum ein Maschinenuniversum kreieren möchte. So sagt Galadriel über ihren Wahrsagespiegel: "Viele Dinge zu enthüllen kann ich dem Spiegel befehlen. [.] Er zeigt Dinge, die waren, und Dinge, die sind, und Dinge, die noch sein mögen", aber eben nicht: sein werden. Und abgesehen davon garantiert das reine Faktenwissen - seien es gegenwärtige oder auch zukünftige Ereignisse - ja noch lange nicht die Objektivität der Nutzenbewertung.

Umgekehrt sollte man sich auch nicht wegen der uns Menschen in der realen Welt fehlenden prophetischen Kräfte irritieren lassen. In den heutigen komplexen Gesellschaften mit ihren wirkungsmächtigen Technologien darf man durchaus auch unsichere Prognosen zu Technikfolgen für wichtig halten, um sich über mögliche Zukünfte zu orientieren. So lässt sich Unwissen wenigstens in unvollständiges Wissen über Handlungsfolgen überführen. Letztlich sollen auch Simulationen und Wahrscheinlichkeitsberechnungen ähnlich wie Galadriels Spiegel zeigen, was künftig in Folge bestimmter Entscheidungen bei gesetzten Prämissen passieren könnte. Allerdings sind wir hier eher auf der gesellschaftlichen Ebene, nicht auf der sehr individuellen des Romans, bei der Weltpolitik von Einzelpersonen gemacht wird. Das mag ein Hinweis darauf sein, dass sich der Utilitarismus besser für normative Abwägungen im gesellschaftlichen Diskurs eignet als für die Ableitung von individuellen Entscheidungen. Und genau in diesem Sinne warnt Galadriel vor dem unsachgemäßen Einsatz ihres Spiegels, als Sam zurück ins Auenland eilen will, weil der Spiegel dort einen Krieg vorhersagt: "Erinnere dich, daß der Spiegel viele Dinge zeigt, und nicht alle müssen schon geschehen sein. Manche werden niemals geschehen, es sei denn, daß jene, die die Bilder sehen, von Ihrem Pfad abweichen, um sie zu verhindern. Der Spiegel ist gefährlich als Führer für Taten". Sie fordert, auf dem jeweils eigenen Pfad zu bleiben, also die individuelle Entscheidung vom eigenen (guten) Charakter abhängig zu machen, und sich nicht von mal so, mal anders prognostizierten, weltpolitischen Ereignissen von sich selbst wegleiten zu lassen. Gleichzeitig bleibt das Handeln der Ringgemeinschaft und ihrer Unterstützer vom gemeinsamen Ziel geprägt, eben jenen befürchteten Krieg zu verhindern.


3. Das glückliche Leben


Was nützt alle Tugend, wenn sie nicht belohnt wird? Der Lohn ist nun natürlich nicht als materielles Gut zu verstehen, dass die Guten also reich und die Bösen arm werden. Das wäre nicht nur unglaubwürdig, sondern würde auch die Tugendethik konterkarieren, da dann alles einem Nutzenkalkül untergeordnet wäre. Einen ersten Hinweis auf die Frage, weshalb man moralisch handeln solle, gibt nun auch wieder der Ring oder vielmehr der richtige Umgang mit ihm. Und hier gibt es nun wahrhaftig kein Richtiges im Falschen (Adorno). Der richtige Umgang besteht darin, ihn gar nicht erst zu haben, den Ring nicht zu besitzen und anzuwenden. Richtig entscheiden sich nur zwei Personen, die den Ring in Händen halten: Tom Bombadil und Samweis Gramschie.

Tom hilft den vier Hobbits ganz am Anfang der Geschichte direkt nach Verlassen des Auenlandes zweimal, als sie im Alten Wald und bei den Hügelgräbern in Gefahr geraten. Tom ist gegenüber den Wirkungen des Ringes immun, wird nicht unsichtbar, wenn er ihn aufsetzt, spielt gar mit ihm herum und sieht auch den vom Ring unsichtbaren Frodo. Er braucht den Ring nicht, denn er ist sein eigener Herr und Meister, wie Gandalf später anmerkt, und - das scheint hier das unausgesprochen Entscheidende zu sein - ist und war auch niemandes Diener, im Unterschied zu Sauron, der ein Gehilfe Melkors war, oder auch die Zauberer einschließlich Gandalf, die von den Valar nach Mittelerde als Eingreiftruppe gegen Sauron geschickt worden und ihnen daher verpflichtet sind. Tom ist absolut frei, und kann dies nur bleiben, wenn er sich im Krieg gegen Sauron streng neutral verhält. Er ist ein Eremit (in Zweisamkeit mit seiner Frau Goldbeere), ist vielleicht sogar das Ideal eines Gelehrten, der mit seinem Wissen Gutes zu vollbringen weiß, jedenfalls ist er ein Beispiel für einen guten Charakter »an sich«, außerhalb von Gesellschaft. Man könnte dies als Ergänzung zum aristotelischen Konzept des tugendhaften Lebens in Gesellschaft verstehen.

Und Sam? Er trägt den Ring, als er Frodo für tot hält, spürt durchaus seine Macht, träumt vom "Samweis dem Großen", auf dessen Befehl hin das Land Mordor zum fruchtbaren Garten mit Blumen und Bäumen werden könnte. Bereits diese leicht ironische Vision zeigt, dass es Sam gelingt, bei sich selbst, seinem "schlichten Hobbitverstand" - alias »gesunden Menschenverstand« - zu bleiben, und dass seine wichtigste Aufgabe darin besteht, zunächst Frodo zu retten. Ihm steht der Garten eines freien Gärtners, nicht aber der Befehl über ein Reich von Gärtnern zu. Tugendhaft sein heißt hier also ganz modern, authentisch zu sein, ein Leben zu führen, das im Einklang mit den eigenen Fähigkeiten steht. Und dieses Leben, das geglückte und damit auch glückliche Leben ist der Lohn der Tugend. Vor allem am Beispiel der Hobbits illustriert Tolkien, wie ein glückliches und erfülltes Leben zu erreichen ist.

Die spezifische Tugend der Hobbits zur bescheidenen Hartnäckigkeit ist es, die der Ringgemeinschaft letztlich den Sieg über die Übermacht Saurons erst ermöglicht. Tolkien setzt auch keinen »Überhobbit« gegen das Böse, so Douglas Blount. Die Hobbits sind eklatant unheroisch. Sie beziehen ihre Stärke stattdessen daraus, dass sie mit »solidem Hobbitverstand« sich selbst, ihr Können und ihre Stellung in der Welt einzuschätzen vermögen und dementsprechend maßvoll handeln. Also entsprechend der schon erörterten aristotelischen Tugendlehre. Und das tun sie in der »Gemeinschaft des Ringes« in einer demütigen, opferbereiten Haltung als Gegenmodell zum modernen Streben nach Kontrolle und Dominanz über die Welt und über andere. So lässt sich mit Eric Katz das Fazit ziehen: "Wenn Sie einen Ring der Macht brauchen, um ihr Leben zu leben, haben Sie sich für das falsche entschieden". Glaubt umgekehrt eine Gesellschaft mit Boromir, nicht auf den Ring verzichten zu können, dann gibt es jedoch kein Richtiges mehr im Falschen.

So zeigt sich das ländlich geprägte, aber irgendwie auch kleinkarierte (man denke an die verhaßten Nachbarn) Völkchen der Hobbits als Vorbild. Charmant daran ist sicherlich, dass wir uns nicht an überlebensgroßen Idealfiguren, sondern an der »kleinbürgerlichen Mitte« orientieren dürfen. Philosophisch ernüchternd ist dabei, dass in diesem Vorbild jedoch immer auch ein Mittelmaß aufscheint, das mit dem aristotelischen Mittelweg nicht identisch ist. Dass aus dem Mittelmaß unter hohem existentiellem Druck Großes entstehen kann, bleibt jedoch bloße Behauptung. In der ausgleichenden - und damit im Guten wie im Schlechten mittelmäßigen - Politik der Gegenwart scheint unter dem Druck der Finanz- und Wirtschaftskrise dergleichen Großes - also eine politisch-gesellschaftliche Perspektive - leider nicht zu entstehen. Es ist also eher eine - dem Fantasy-Märchen auch angemessene - Hoffnung, dass wir uns auch selbst retten können, obwohl wir ohne Übermenschen auskommen müssen.


4. Der Ursprung des Bösen


Das Böse ist bei Tolkien nicht so eigenständig konzipiert wie beim Manichäismus, bei dem ein Kampf des Guten gegen das Böse mit wechselnden Siegern stattfindet. Das Böse ist wie bei Augustinus als ein Mangel an Gutem konzipiert, so Scott Davison. Das Böse entsteht bei Augustinus durch "ungeordnete Begierde" - bei Tolkien ist das sehr schön exemplifiziert durch den Stolz der Menschen, die nach Macht streben, durch die Wißbegier der Elben-Schmiede, die unter Anleitung des unerkannten Sauron die Ringe schmieden und sich dabei (fast) den Einen Ring unterjubeln lassen, oder auch durch die - allerdings von den sieben Ringen besonders verstärkte - Erzgier der Zwerge, die den Balrog aus den Tiefen der Erde befreien, was dann zum Untergang des Zwergenreiches Moria führt.

Da sich ein Mangel grundsätzlich beseitigen lässt, gibt es auch immer eine Möglichkeit, das Böse aus der Welt zu schaffen, so Davison. Das gilt jedoch immer nur partiell: Die Eliminierung eines Bösen hier, die Beseitigung eines Mangels dort, und schon wieder gibt es anderswo ein Problem. Die Fülle wird nie absolut, weder bei Tolkien, noch in unserer Welt. Bildlich sehr packend gefasst wird das Böse in der Beschreibung von Saurons Auge, das Frodo in Galadriels Spiegel zum ersten Mal erblickt: "Da wurde der Spiegel plötzlich völlig dunkel, so dunkel, als ob sich in der sichtbaren Welt ein Loch aufgetan habe, und Frodo schaute in eine Leere. In dem schwarzen Abgrund erschien ein einzelnes Auge, das langsam wuchs, bis es fast den ganzen Spiegel ausfüllte. [...] Das Auge war von Feuer umrandet, aber es selbst war glasig, gelb wie ein Katzenauge, wachsam und angespannt, und der schwarze Schlitz seiner Pupille öffnete sich über einem Abgrund, ein Fenster zum Nichts (a window into nothing)". Hier sehen wir den absoluten Mangel. Der Blick ins Nichts von Saurons Auge ist durchaus als Drohung des absoluten Endes zu sehen. Würde Sauron siegen, dann wäre in letzter Konsequenz nichts mehr, also Nichts. Diese allergrößte Gefahr der kompletten Nichtung des Seins - religiös gesprochen: der Vernichtung der Schöpfung - rechtfertigt erst das Eingreifen höherer Mächte, die sich sonst - auch in Mittelerde - gerade nicht zeigen. Zurückgeschickt von den Valar erhält Sauron mit der Rückkehr des vom Balrog getöteten Zauberers als Gandalf der Weiße wieder einen ebenbürtigen Gegner.


5. Die entmythologisierte Welt: Geschichte, Technik und Natur in Mittelerde


Grundlage der im Herrn der Ringe vermittelten ethischen Überzeugungen scheint eine sehr traditionsbezogene, anti-moderne Haltung Tolkiens zu sein. Das Nahen einer imaginierten Moderne mit ihrer Orientierungslosigkeit und der damit einhergehenden Verzweiflung ist im ganzen Roman zu spüren. So kann man mit Joe Kraus den Ring als eine Verkörperung der Moderne interpretieren. Der Ring zeigt sich als eine autonome Macht, die sich alles unterwerfen will und von Rücksichten auf Herkömmliches völlig absieht. Der Bezug zur aufgeklärten, entmythologisierten Moderne wird verstärkt dadurch, dass insbesondere die Menschen den Verlockungen des Ringes erliegen und seine Gestaltungsmacht als nützlich bewerten. Im Gegensatz dazu können die Elben unter hoher moralischer Anstrengung dem Ring widerstehen, auch weil sie die zerstörerischen Risiken viel höher bewerten. Das nimmt auch nicht Wunder, sind sie doch als erste vom Zerstörungswerk einer aufklärenden Moderne betroffen.

Andererseits befinden sich die mythischen Humanoiden - Elben, Zwerge und Hobbits - ohnehin bereits auf dem Rückzug von der Welt, während das nach der Vernichtung des Ringes anbrechende neue Zeitalter eines der Menschen wird. Die Elben verlassen trotz ihrer erwiesenen Standhaftigkeit Mittelerde, weil ihr Glanz mit dem Ende der Wirkungsmacht auch ihrer Ringe verblasst. Das Zeitalter der Moderne ist auch mit der Vernichtung des Einen Ringes nicht aufgehalten, sondern vielmehr begünstigt worden. Die Elben reagieren darauf, wie die ungebändigte Natur auf den technisch-rationalen Zugriff: sie entziehen sich. Von den versprengten Resten der Zwerge sieht man - im Gegensatz zur Aufbruchstimmung, die noch im Hobbit geherrscht hat -, fast gar nichts mehr. Offenbar war es schwierig, ihrer Form einer vor-modernen bergmännischen Naturausbeutung eine Modernitätskritik abzuringen. Hat doch die ganz mythische Gier der Zwerge das größte Ungeheuer der Tiefe - den Balrog - befreit und die Zwerge dadurch zu einer ganz unmodernen Form der Selbstvernichtung geführt.

Nur die Hobbits bleiben. Diese aber sind die kleinen Menschen vom Lande, denen es immer wieder gelingt, Modernisierungsbestrebungen zu unterlaufen.

Der geschichtsphilosophische Horizont im Herrn der Ringe ist einer des unvermeidlichen Fortschritts, der von der Ringgemeinschaft unter großen Opfern in positive Bahnen gelenkt wird, an keiner Stelle aber zurückbiegbar in die (mythische) Vergangenheit erscheint. Tolkien betont die hohen Modernisierungsverluste und trifft damit die Sehnsüchte der Leserschaft. Aber gleichzeitig scheint auch die Unvermeidlichkeit dieser Entwicklung auf. Und der Held der Geschichte, die Identifikationsfigur für eine richtige Lebensführung, kämpft dafür, die unvermeidliche Modernisierung positiv zu gestalten, die a-rationalen Kräfte des absolut Bösen zu eliminieren. Trotz des sehnsüchtigen Blicks zurück in den Mythos treibt also Tolkien selbst die unvermeidliche Entmythologisierung voran.

Mit der Ring-Technologie zeigt Tolkien Gefahren, die entstehen, wenn durch Technik Macht in verselbständigte Objekte verlagert wird, so Theodore Schick. Dies gilt unabhängig von der Legitimität der in den Artefakten eingearbeiteten Ziele und Zwecke. So haben die Elben-Schmiede ursprünglich die Ringe hergestellt, um ihre Welt zu bewahren und zu steigern, nicht aber, um andere Welten zu beherrschen. Durch den Einen Ring können sie aber gleichgeschaltet und zum Bösen verzweckt werden. Rettung erwächst schließlich allein daraus, dass der Geschichtsverlauf durch Entscheidungen Einzelner - nämlich die Mitglieder der Ringgemeinschaft - und scheinbare Nebensächlichkeiten - der unscheinbare Hobbit Frodo als unwahrscheinlicher Ringträger, der den Ring einem »Zufallsfund« seines Onkels Bilbo verdankt - in unvorhersehbarer Weise beeinflusst wird. Übertragen auf die Technik heißt das, dass sie sich nicht isoliert, sondern immer in sozialen Kontexten entwickelt, so die interessante technikphilosophische Ausdeutung von Theodore Schick. Die Gestaltungsmacht für eine Technologie liegt also nicht ausschließlich beim Hersteller - sei er auch so übermächtig wie Sauron -, sondern auch beim Anwender, dem »Ringträger«, und den Betroffenen, soweit sie den Ringträger beeinflussen können. Dies gilt es auch zu hoffen bezüglich der Nanotechnologie, deren allumfassende Machbarkeiten zuweilen in derartig erschreckenden Visionen ausgemalt werden, dass der »Eine Ring« dagegen fast wie ein vertrautes, hausbackenes und zentralistisch-hierarchisches Instrument wirkt. Die Ring-Metapher passt denn wohl auch eher zur altmodischen Kernenergie, zu der die Bewohner des Wendlandes noch den zugehörigen Frodo suchen. Hinsichtlich neuer Technologien teilt Tolkien die technische Unbefangenheit George Orwells, dessen 1984 angesichts heutiger technischer Kontrollmöglichkeiten von der Realität längst deutlich übertroffen ist.

Auch das Wirken des Zauberers Saruman wirkt wie eine plakative Technikkritik: das stark gezeichnete Bild der Naturzerstörung durch Industrialisierung. Der Fangorn-Wald wird abgeholzt und das Auenland der Hobbits lernt den Manchester-Kapitalismus kennen. Saruman ist ein Machtmensch, der dem absolut Bösen des Sauron widerstehen zu können glaubt und eine ganz eigenständige Form der Naturausbeutung und gentechnischen Humanoidenzüchtung beginnt. Die sehr negative Darstellung dieses Ansinnens scheint den antimodernistischen Zug zu bestätigen. Doch wie geht Tolkien dann mit der derartig totalisierten Industrialisierung um? Nach langem Überlegen entschließt sich die Natur - das heißt spezieller der Fangorn-Wald - sich selbst zu wehren. Dies erfolgt in Gestalt der Ents, das sind baumartige Wesen, die sich als Baumhirten bezeichnen und, da sie sich seit Jahrhunderten nicht mehr fortpflanzen, ohnehin vor dem Aussterben stehen. Die mythische, die unheimliche, auch für die ,Guten' gefährliche Natur des dunklen Fangorn-Waldes, in den sich niemand hineintraut, greift nun aber ein. Das ist unerhört, gibt hier doch die Natur ihre von der modernen Naturwissenschaft postulierte Interesselosigkeit auf. Man muss sich wohl schon in die neolitische Steppe zurückdenken, um eine derart aktive, den Menschen bedrängende Natur nacherleben zu können. Die Sirenen singen (wieder), die entfesselten Naturkräfte zerstören durch Überflutung das technische Werk des Odysseus alias Saruman.

Der Techniker Saruman hat die zerstörerische Gewalt von Naturkatastrophen völlig unterschätzt, nein: gar nicht in Betracht gezogen. Eigentlich hat er sie selbst durch das nachlässig-leichtfertige Abholzen des Fangorn begünstigt. Hätte er den Wald nachhaltig bewirtschaftet: Die Ents wären untergegangen, ohne es selbst zu bemerken. Der Naturverlust bleibt aber auch bei Tolkien uneinholbar: die Ents sind keine Freunde der Menschen, sondern eine unabhängige, unheimliche und rücksichtslose Naturmacht auch dem harmlosen Wanderer gegenüber. Nur das benachbarte, bereits kulturalisierte Weideland ist sicher. So sehr also der industrielle Naturzugriff kritisiert wird, einen Weg »Zurück zur Natur« gibt es nicht, wie dies im Übrigen auch bei Rousseau der Fall ist. Den Baum der Erkenntnis, von dem wir laut Kleist ein zweites Mal essen müssten, um wieder in den Stand der Unschuld zu fallen, gibt es auch in der phantastischen Welt Tolkiens nicht. Von dem einmaligen Bündnis mit den Ents abgesehen bleiben wir der Natur entfremdet.

Obwohl der Erfinder der Fantasy-Literatur ganz anti-modern daherkommt, zeigt eine detailliertere geschichtsphilosophische Analyse, dass es sich beim Herrn der Ringe um eine Fortschrittsgeschichte handelt, die in der (in unserer?) Vergangenheit spielt. Mittelerde ist in der Tat vor-modern, jedoch wirken alle Protagonisten auf je eigene Weise an ihrer fortschreitenden Modernisierung und Entmythologisierung mit. Nach dem vernichtenden Sieg über Sauron bricht bei Tolkien ein neues Zeitalter an, das der Menschen - alle anderen Humanoiden treten in den Hintergrund oder verlassen gar Mittelerde. Die sekundäre Fantasiewelt wandelt sich immer mehr hin zur "realistischen" Primär-Welt, in der spätestens mit dem Aussterben der Ents auch die letzten Flecken unberührter Natur verschwinden werden. Es fällt leicht, sich eine Weiterentwicklung der zwergisch-mittelalterlichen Handwerkstechnik hin zu ersten maschinellen Erfindungen im aufblühenden und den ganzen Westen vereinigenden Königreich Aragorns auszumalen. Das scheint gewissermaßen die List einer glaubhaften, weil die Möglichkeit des Scheitern in einer ,Dyskatastrophe' nicht grundsätzlich verneinenden ,Eukatastrophe' zu sein: Diese plötzliche Wendung zum Guten in Tolkiens Märchen gelingt nur um den Preis, ein künftiges "Zeitalter »immer besserer Mittel zu immer schlimmeren Zwecken«" - so Tolkiens Diagnose der hässlichen europäischen Moderne - einzuläuten. Offenbar geht mit dem Sieg des Guten und der daraus folgenden Weltumgestaltung immer wieder auch eine Vervielfältigung der Möglichkeiten zum Mangel, ergo zum Bösen, einher. Man hat nicht den Eindruck, dass begleitend zum technischen Fortschritt auch nur auf eine dieser Möglichkeiten verzichtet wird.

Literaturhinweise:

J.R.R. Tolkien [Übersetzung: Margaret Carroux]:
Der Herr der Ringe (HdR).
Stuttgart: Klett-Cotta 1978

J.R.R. Tolkien:
Ainulindale. In: ders.: Das Silmarillion.
Stuttgart: Klett-Cotta 2007, S. 11-22

J.R.R. Tolkien:
Über Märchen. In: ders.: Gute Drachen sind rar.
Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 51-140

Gregory Bassham, Eric Bronson (Hg.):
Der Herr der Ringe und die Philosophie. Klüger werden mit dem beliebtesten Buch der Welt.
Stuttgart: Klett-Cotta 2009

Henry Gee:
Die Wissenschaft bei Tolkien.
Weinheim: Wiley-VCH 2009